Jirmijahus Berufung und Vision
„Er (Jirmijahu) setzt sich auf und blickt in die nächtige Kammer. Was ist geschehen? Den Ausschnitt des Fensters hat etwas verdunkelt.
Von draußen dringt es herein, biegt und verteilt sich nach allen Seiten, so dass es die ganze Stube erfüllt; nichts Undeutlich-Wallendes, sondern alles klar und ausgebildet bis in das letzte Blättchen. Ein dichtes Blütengezweig ist es, das üppig eindringt und, lebendig sich spaltend, wie ein Netz an den Wänden hinrankt. Als wüchse vor dem Fenster plötzlich ein Baum, dessen Äste in die Kammer greifen. Die Zweige des Mandelbaums sind’s, die am frühesten wach werden im Jahr ... das Zweigicht des Erwachens, der Ermunterung, der Morgenfrühe, der Jugend, dringt unablässig durch das Fenster. Unzählige Knospen springen auf, weiß und rosarot, entfalten sich, fallen ab, weil andere nachdrängen. Mit Händen könnte Jirmijah die herzbewegenden Blust greifen, Zweig um Zweig, Wachblüte an Blüte.
Er regt sich nicht auf seinem Lager. Er weiß: dies ist ein Gesicht. ...
Und die Stimme kommt genau in dem Augenblicke, da er ihren Eintritt erwartet. Eine klare und sanfte Mannesstimme. Dunkelrund füllt sie die Kammer aus. Jede Mauerritze, jede Holzscharte ist gleichzeitig und gleichmäßig voll von ihr. Doch wunderbarerweise hat die Stimme keine Stelle, von der ihre Schwingungen ausgesendet werden. Sie entsteht und verbreitet sich allenthalben auf einmal. Der ganze Raum bringt sie hervor. Es ist, als sei sie immer dagewesen, verdunkelt nur vom allgemeinen Geräusch der Welt. Nun scheint dieses Allgeräusch zurückzutreten,wodurch die Stimme hervortritt. ...
Sie erfüllt demnach nicht nur denäußeren Raum um Jirmijah, sondern auchden innern Raum, der er selbst ist. Die Stimme spricht innen und außen zugleich....
Und die Mannesstimme sagt sanft und klar: "Jirmejahu..."
Nach einer Weile antwortet der Gerufenen schweren Atems: "Hier bin ich..." In dieser Antwort liegt noch ein letzter Rest von listiger Feigheit. .. Anders lautet die Formel, Gottes Stimme zu stellen und sie festzuhalten....Doch vielleicht geht es noch einmal vorüber.
Es geht nicht vorüber an ihm. Wieder füllt sich der Raum, dessen auch er eine Teil ist, gleichzeitig und gleichmäßig mit der dunklen Stimme,die spricht: "Jirmijahu!" Überwunden und mit schwindender Furcht öffnet Jirmijah wie ein zaghaft Betender die Hände und sagt die Formel: "Rede, Herr, dein Knecht hört."
Nun umschreiten die Worte der Stimme fast körperhaft das Lager und versammeln sich am Kopfende..."Ich habe dich gekannt, eh ich im Leib deiner Mutter dich schuf - Ich habe dich ausgesondert, noch ehe sie dich gebar - Ich habe als Künder dich unter die Völker gestellt -" ..." Auszug aus Franz Werfels "Jirmijahu - Höret die Stimme (S.81-83)
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