Didaktischer Kommentar [nur für Lehrkräfte / Kurstrainer sichtbar]
Das Thema "Zeitzeugeninterviews" ist im wissenschaftlichen Sinn quellenkundlich und nicht primär inhaltlich, also weder ereignis- noch strukturgeschichtlich einzuordnen. Im Unterricht werden "Zeitzeugeninterviews" aber häufig nicht als Quellengattung thematisiert, sondern zur Bekräftigung der Authentizität von anderen Quellen eingesetzt. Dieser Einsatz zur Hebung der Glaubwürdigkeit von anderen Quellen ist als Reaktion auf die Unvorstellbarkeit der Verbrechen und als Form des Verhaltens gegenüber den Menschen, die das erlitten haben, absolut nachvollziehbar. Als Folge einer Pauschalbewertung von Zeitzeugenberichten ist dieser Einsatz aber fragwürdig und im Detail nicht immer leicht nachzuweisen, weil die Zeitzeugenberichte natürlich auch Merkmale subjektiver Erlebnisse wiedergeben. Die vorliegende Lernaufgabe möchte zwischen beiden Extremen vermittelnd vom überlieferten Inhalt als Gegenstand ausgehen und sich der Historizität der Zeitzeugeninterviews annähern.
a) Ansatz
Die Lernaufgabe fördert die Fähigkeit zur Auswertung von Zeitzeugenberichten, die in Form von Video- oder Audioquellen auf den Webseiten verschiedener Institutionen wie der Shoah Foundation angeboten werden. Im Kern geht es dabei vielfach um die beiden Fragen: Kannst Du heute erkennen, was ich damals erlebt habe? Haben diese Menschen dasselbe gesehen, wie wir es heute auf Bildern und in anderen Zeugnissen wahrnehmen können? Weil es an diesem Punkt einen relativ starken subjektiven Bezug gibt, folgt die Lernaufgabe dem konstruktivistischen Ansatz: Es wird davon ausgegangen, dass jeder Schüler in der Auseinandersetzung mit den Zeitzeugeninterviews sein ganz eigenes Wissen konstruiert. Erst im gemeinsamen Gespräch über die Inhalte oder in der schriftlichen Reflexion wird deutlich, was der Schüler tatsächlich für sich selbst mitgenommen hat. Die Einheit ist für maximal 6 Stunden konzipiert, es können aber Teile ausgewählt werden oder man kann sich auf Anfang und Ende der Einheit konzentrieren. Als Folge des konstruktivistischen Ansatzes enthält jeder einzelne Teil eine Aufgabe, die produktiv angelegt ist.
b) Lehrplanbezug
Die Lernaufgabe kann nach den Informationen im Frühjahr 2017 auf der Website des LehrplanPlus im Gymnasium und in der FOS/BOS in der Oberstufe oder am Gymnasium in der Mittelstufe durchgeführt werden. In G 11.2.1 ist die Auswertung von Zeitzeugenberichten explizit unter den Kompetenzerwartungen aufgeführt. Auch bei den vorgeschlagenen Inhalten findet sich der Völkermord zur Zeit des NS-Regimes. Das Thema ist insofern lohnend und seine zeitliche Ausdehnung wert, als alle angestrebten Ziele gleichzeitig übergreifende Ziele der politischen Bildung, der Werteerziehung, des Sozialen Lernens und auch der Medienbildung sind. [ mehr >> ]
In G 9.2 findet sich der explizite Verweis auf Zeitzeugenberichte nicht. Im Hinblick auf das Alter und die Reife der Schülerinnen und Schüler ist das sicherlich bedenkenswert, denn die geschilderten Szenen sind teilweise brutal und menschenverachtend. Eine eigene Bewertung der Quellen im Bezug auf die konkrete Klassenzusammensetzung und eine Vorauswahl durch die Lehrkraft wäre daher sinnvoll. Im Zweifel eignet sich am ehesten der Abschnitt 2 "Gegenstand". [ mehr >> ]
c) Aufbau der Lernaufgabe
1. Stunde
Die Lernaufgabe eröffnet das Lernfeld durch Begegnung mit den Zeitzeugen vermittelt durch die Interviews. Die Schülerinnen und Schüler können zu Beginn frei wählen, welcher Person sie länger zuhören oder zuschauen wollen. Sie halten ihre Erwartungen fest, überprüfen diese nach ihren ersten Eindrücken und geben den Inhalt der Berichte in den Interviews wieder. Das Hören bzw. Sehen der Zeitzeugenberichte kann auch zuhause erfolgen.
2. + 3. Stunde
Im nächsten Schritt wird der Inhalt genauer untersucht. Die Schülerinnen und Schüler konzentrieren sich zunächst auf einen Gegenstand, die tätowierten Nummern, sie reflektieren einzelne Aussagen im Kontext dessen, was wir über die Konzentrations- und Vernichtungslager wissen, sie erfahren, dass ein Zeitzeugenbericht auch eine historische Dimension im Leben des Zeitzeugen hat.
4. Stunde
Im dritten Schritt geht es um konkret belastende Schilderungen und um die Frage, wie die Zeitzeugen bei solchen Schilderungen mit ihren eigenen Emotionen umgehen. Ausgehend von der Frage der Schuld ist ein Bezug zur gerichtlichen Verfolgung der Täter und zu den Nürnberger Prozessen impliziert.
5. (+ evtl. 6.) Stunde
Im letzten Schritt suchen sich die Schülerinnen und Schüler selbst Zeitzeugeninterviews aus und erarbeiten eigene Ergebnisse, die sie hinterher präsentieren können.
d) Kontext der Lernaufgabe
In einer Sequenz zum Nationalsozialismus würde die Lernaufgabe eher am Ende stehen.
Teil einer Sequenz in G9
Davor wären in der Jahrgangsstufe 9 zu behandeln:
- Ideologie des Nationalsozialismus,
- Machtausbau und Systemstabilisierung („Ermächtigungsgesetz“, „Gleichschaltung“, Propaganda, Terror),
- Ausprägung des Nationalsozialismus in Bayern an einem regionalen Beispiel,
- Leben im totalitären Staat,
- Expansions- und Eroberungspolitik, Zweiter Weltkrieg
Danach würde sich der Unterricht den folgenden Punkten zuwenden:
- Widerstand im „Dritten Reich“, u. a. Weiße Rose, Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944
- Kriegsende in Europa und Asien
Im vollen Umfang nähme die Lernaufgabe in der 9. Jahrgangsstufe als Teil dieser Sequenz 6 Stunden von insgesamt 16 Stunden ein.
Teil einer Sequenz in G11
In der Q11 hätte die gesamte Lernaufgabe den Umfang von 6 Stunden aus insgesamt 12 Stunden. Vor der Lernaufgabe wäre zu behandeln:
- Krise und Zerstörung der Weimarer Demokratie zur Zeit der Präsidialkabinette und Aufbau des NS-Herrschaftsapparates bis zum Tod Hindenburgs
- Zentrale Aspekte der nationalsozialistischen Weltanschauung und inszenierte Lebenswirklichkeiten im totalitären Staat, u. a. Propaganda
- Ausgrenzung und Verfolgung der Juden bis 1939
Nach der Lernaufgabe könnte man sich dem Stellenwert des NS-Völkermords in Geschichte und Gegenwart zuwenden.
e) Erfolgskriterium
Ein Erfolgskriterium an einem so heiklen Punkt der eigenen Geschichte zu definieren, erscheint schwer. Allgemein kann man sagen, dass die Lernaufgabe erfolgreich bewältigt wurde, wenn die Kompetenzerwartung eingetreten ist. Etwas weniger allgemein könnte man vorschlagen, dass die Lernaufgabe dann erfolgreich bewältigt wurde, wenn in den schriftlichen Schülerlösungen oder in mündlichen Äußerungen eine subjektive Auseinandersetzung erkennbar wird, die das Menschsein als Opfer oder als Täter berührt und eventuell Bezüge zu den universal gültigen Menschenrechten oder zur Form der freiheitlichen Gesellschaft oder zur Familiengeschichte oder zu Erinnerungsorten oder Vergleichbarem zeigt.